Nähe und Distanz

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Nähe und Distanz ist nicht erst seit Corona ein wichtiges Thema, sondern stellt auch für Kinder und Heranwachsende eine wichtige Lern- und Entwicklungsaufgabe dar. Wie viel Abstand muss ich zu meinem Gegenüber einhalten? Bei welcher Distanz fühle ich mich wohl? All dies sind präsente Fragen, die viel Unsicherheit in unseren Alltag bringen. Neben der körperlichen Distanz gibt es aber auch noch die emotionale Komponente. Wie emotional möchte ich an dem Leben meines Gegenübers teilnehmen? Wie soll unsere Beziehung gestaltet sein?

Und auch ein Ehrenamt kann in dieser Hinsicht eine Herausforderung sein. Es gilt so viel Nähe zuzulassen, dass sich der andere gut unterstützt fühlt, gleichzeitig aber so viel Distanz aufzubringen, dass die Beziehung nicht überladen wird oder ich emotionale Belastungen mit nach Hause nehme. Um hierfür ein Gespür zu entwickeln und souverän in zwischenmenschlichen Beziehungen je nach Situation zwischen Nähe und Distanz variieren zu können, widmen wir uns diesem Thema umfassend.

Nähe & Distanz als Entwicklungsaufgabe

Betrachten wir das Verhältnis von Nähe und Distanz im Entwicklungs- und Wertequadrat von Schulz von Thun. Die Prämisse des Werte- und Entwicklungsquadrats lautet: “Jeder Wert (jede Tugend, jedes Leitprinzip, jede menschliche Qualität) kann nur dann seine volle konstruktive Wirkung entfalten, wenn er sich in ausgehaltener Spannung zu einem positiven Gegenwert, einer „Schwesterntugend” befindet. Ohne diese Balance verkommt ein Wert zu seiner entwerteten Übertreibung.”

Die richtige Balance finden

In den oberen beiden Ecken des Diagramms sind die zentralen Begriffe Nähe und Distanz aufgeführt. Die darunter liegenden Ecken stellen entgegengesetzte Extremformen der obigen Begriffe dar. Weder eine selbstlose Aufopferung noch eine starke Einsamkeit sind wünschenswert. Die Pfeile zeigen den Weg auf, um aus solchen Extremzustände herauszukommen. Im Falle einer Aufopferung muss mehr Distanz in die Beziehung gebracht werden, bei Einsamkeit mehr Nähe. 

In diesem Modell ist gut zu erkennen, dass das Verhältnis von Nähe und Distanz ein Balanceakt ist. Außerdem bietet es eine hilfreiche Orientierung, indem man selbst überlegt, wo die Beziehung der eigenen Meinung nach steht. Doch wie können wir diese Erkenntnisse in die Praxis umsetzten?

Die Lösung für die körperliche Nähe und Distanz scheint im Gegensatz dazu denkbar einfach. Möchte ich mehr Distanz zwischen mich und meine Gegenüber bringen, weiche ich einen Schritt zur Seite oder nach hinten aus. Möchte ich mehr Nähe zwischen uns bringen, gehe ich einen Schritt auf den anderen zu.

Wie aber gehe ich emotional einen Schritt vor oder zurück?

Um diese Frage zu beantworten, haben wir jemanden gefragt, der sehr viel Erfahrung auf diesem Gebiet vorzuweisen hat: Christa Bay ist ausgebildete Kinderkrankenschwester und seit mehreren Jahren Teil des Brückenteams für Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung für Kinder und Jugendliche mit Sitz im UKM. Wie der Name schon sagt stellt das Team die Versorgung von schwerstkranken Kindern in der häuslichen Umgebung sicher.

Interview mit Christa Bay vom Brücken-Team

Herzkranke Kinder e.V: Sie haben einige Jahre auf der Kinderkardiologie des UKM gearbeitet, bevor Sie zum Brückenteam gewechselt sind. Wo denken Sie, ist die emotionale Distanz einfacher zu halten?

Christa Bay: Im Krankenhaus ist es denke ich einfacher, die nötige emotionale Distanz zu wahren. Im häuslichen Kontext erlebt man Patienten und ihre Familien auf einer viel privateren Ebene. Außerdem kann allein schon die Arbeitskleidung im Krankenhaus dafür sorgen, dass der berufliche Kontext präsenter ist.

Herzkranke Kinder e.V: Mittlerweile sind Sie seit ca. 4 Jahren Teil des Brückenteams. Gibt es Situationen, in denen Ihnen aufgefallen ist, dass die berufliche und private Ebene vermischt wurden?

Christa Bay: Oft erleben wir, dass Helfer oder Pflegepersonal mit der Zeit die Grenze zwischen Berufs- und Privatleben verlieren. Durch die viele Zeit, die sie in den Familien verbringen, erleben sie die Familienstruktur und bekommen letztendlich sehr viel von den Familien mit. Teilweise verschwimmt die Grenze schließlich und tiefere Beziehungen wie Freundschaften entstehen. Das Verhalten der Helfenden wirkt dann schnell übergriffig und die Eltern fühlen sich in ihrer Rolle verunsichert.

Herzkranke Kinder e.V: Haben Sie Strategien, um die nötige emotionale Distanz zu halten?

Christa Bay: Ja. Grundsätzlich bleibe ich mit den Eltern auf der Sie-Ebene. Die Form der Anrede ruft einem immer wieder ins Gedächtnis, dass es sich um ein berufliches Treffen handelt, und nicht um ein privates.  Meine innere Einstellung ist außerdem sehr wichtig. Wenn ich eine Familie begleite, muss ich mir bewusst machen, dass ich in eine bestehende Struktur komme. Ich habe kein Recht überall einzugreifen und diese Struktur nach meinen Vorstellungen zu formen. Es gilt sich an den Bedürfnissen des Patienten und der Familie zu orientieren und nicht an meinen Ideen dazu. Das ist denke ich auch die Herausforderung des Helfens, die Hilfe zu geben, die der andere auch wirklich braucht und nicht die, die ich für richtig halte. Im Team findet außerdem regelmäßig eine Supervision statt, in der wir uns über die Arbeit austauschen. Es hilft sehr, andere Meinungen und Sichtweisen erklärt zu bekommen und sein eigenes Verhalten zu reflektieren.

Herzkranke Kinder e.V: Gibt es Situationen, in denen es besonders schwierig ist, die emotionale Distanz zu halten?

Christa Bay: Natürlich ist der Tod eines Kindes eine sehr emotionale Situation. Besonders wenn ich die Kinder lange begleitet habe, oder sie Ähnlichkeiten mit meinen eigenen Kindern haben/hatten, ist es schwieriger, die Distanz zu wahren.

Herzkranke Kinder e.V: Was machen Sie in solchen Situationen?

Christa Bay: Ich denke, dass gerade der Ausgleich im privaten Rahmen wichtig ist. Ich persönlich greife in diesen Situationen oft zum Putzeimer. Aber auch ruhigere Aktivitäten wie Lesen sind für mich hilfreich, und natürlich der Kontakt mit Freunden und Familie. Eine weitere Stütze ist auf jeden Fall mein Glaube. All dies sind aber individuelle Lösungen; es gibt keine Anleitung, bei wem welche Strategie wann besonders gut funktioniert. Man lernt mit der Zeit, was man in diesen Situationen braucht. Achtsamkeit einem selbst aber auch anderen gegenüber sind in diesem Zusammenhang wichtige Punkte. Besonders in unserem Team achten wir aufeinander, um uns gegenseitig in schwierigen Situationen zu unterstützen.

Herzkranke Kinder e.V: Viele Menschen reagieren mit Sätzen, wie: „Das könnte ich nicht!“, auf Ihre Arbeit. Was entgegnen Sie solchen Reaktionen?

Christa Bay: Nun ja, der Tod ist unweigerlich, leider, ein unumgängliches Thema in unserer Arbeit. Das bedeutet aber nicht, dass wir nur das im Blick haben. Ganz im Gegenteil. Das Leben steht bei uns im Fokus. Wir möchten, dass das Kind und die Familie noch viele schöne Erinnerungen sammeln können. Dazu gehört auch, nicht zu viel an die Zukunft zu denken, sondern vor allem in der Gegenwart zu leben und diese zu genießen, so schwierig die Rahmenbedingungen auch sein mögen.  

Herzkranke Kinder e.V: Herzlichen Dank für dieses Interview!

Auch wenn das Verhältnis von emotionaler Nähe und Distanz eine Herausforderung darstellt, ist ehrenamtliches Engagement eine unglaubliche Bereicherung und essenziell für unsere Gesellschaft. Wir unterstützen deshalb unsere Familien und Ehrenamtlichen sehr, damit die Zusammenarbeit für beide Parteien eine Bereicherung ist.

Weitere Infos zur Arbeit des Brücken-Teams:

Um den Flyer anzusehen, bitte hier klicken.